Ambiguitätstoleranz in Unternehmen: Gemeinsam ins Abenteuer Zukunft

«Meine Arbeit ist es, Menschen mit all ihrer Unterschiedlichkeit, ihren Stärken und Potenzialen auf dem Weg zu gemeinsamen Zielen zu unterstützen und zu begleiten, zu sehen, wie sich ihre Potenziale entfalten und ihre Stärken zu einer gemeinsamen Bewegung auf das Ziel hin zusammenfügen», sagt Thomas Weegen von sich. Hier im Interview spricht er über die schwierigen Auswirkungen der Disruption. Es gilt, deren Mehrdeutigkeit, also die Ambiguität, zu tolerieren.

Thomas Weegen vom Beratungsunternehmen Coverdale Deutschland.

«Disruption ist die Signatur, Transformation die Aufgabe der Zeit. Aus der Akzeptanz des einen und der gemeinsamen Bewältigung der sich daraus ergebenden Aufgabe entwickelt sich die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens», sagt der Berater Thomas Weegen. Da- bei spiele die Ambiguitätstoleranz als Fähigkeit, mit unklaren Verhältnissen klarzukommen, eine bedeutende Rolle.

Ambiguitätstoleranz, ein nicht eben geläufiges Wort. Woraus ergibt sich dessen Bedeutung?

Thomas Weegen: Aus der Notwendigkeit, sich der Tatsache zu stellen, dass sich die Entwicklung mit zunehmender Geschwindigkeit aus dem Bereich des Gewissen in den Bereich des Ungewissen verlagert. Das ist ein Gang der Dinge, der verunsichert. Diese Unsicherheit macht zu schaffen. Sich davon nicht beeinflussen zu lassen und damit umgehen zu können, wird zu einem gewichtigen Baustein sowohl im persönlichen Eignungsprofil als auch in der Handlungsfähigkeit von Unternehmen. Insofern mein Hinweis, der Ambiguitätstoleranz als leistungsunterstützendem Faktor Aufmerksamkeit zu schenken.

Was genau verbirgt sich hinter dem Begriff?

Ambiguity heisst schlicht und einfach Mehrdeutigkeit. Eine Entwicklung beispielsweise ist ambigious, wenn noch nicht ausgemacht ist, was aus ihr schlussendlich herausbrät und welche Folgen sich daraus für das berufliche wie unternehmerische Handeln ergeben werden; wenn sich eine notwendige Reaktion darauf zwar als unabdingbar erweist, sich aber noch nicht in eindeutigen Konturen und Handlungsoptionen fassen lässt. Aufs Heute bezogen ist die Disruption ein mehrdeutiges Geschehen. Die Dinge sind im Fluss, es zeichnen sich auch Richtungen und voraussehbare Konsequenzen ab, doch noch ist Vieles denkbar und möglich. Der damit einhergehenden verunsichernden Ungewissheit tolerant begegnen, sie aushalten, mit ihr umgehen und sie durchstehen zu können, dafür steht der Begriff Ambiguitätstoleranz.

Und wenn das nicht so recht gelingen will?

Dann hat das ungute Folgen. Sich der Offenheit, also der nicht gegebenen Eindeutigkeit von Entwicklungstendenzen zu verweigern bedeutet für Mensch wie Unternehmen, sich aus der Auseinandersetzung mit etwas womöglich demnächst das Geschehen Bestimmendem auszukoppeln, den Anschluss daran zu verlieren. Unter ganz persönlichen Qualifikations- wie auch Entwicklungsgesichtspunkten beispielsweise ist das ein Desaster. Einmal aus der Entwicklung gefallen, kostet es erheblich mehr Energie und Anstrengung, zum Stand der Dinge wieder aufzuschliessen, als es die kontinuierliche Beobachtung und Einstellung auf die Entwicklung fordert. Hinzukommt: Nicht immer ist es möglich, Versäumnisse nachzuarbeiten und aufzuholen.

Ambiguitätstoleranz aus betrieblicher Sicht fordert?

Sich konsequent weiter im Bewährten zu engagieren und sich gleichzeitig auf das potenzielle Neue hin zu orientieren; vorhandene Potenziale zu pflegen und parallel dazu an Entwicklung und Aufbau neuer zu arbeiten. Die Pflege des bestehenden Angebots sichert den finanziellen Spielraum dazu. Ein Unternehmen in den Turbulenzen des je nach Branche oder Wirtschaftszweig mehr oder weniger ausgeprägt Zukunftsungewissen mit Aussicht auf stabile Behauptung am Markt zu führen, verlangt ein Handeln im «Sowohl-als- auch-Modus». Diese Erkenntnis kommt im Begriff Ambidextrie zum Ausdruck, der zur- zeit die Diskussion um die Unternehmensführung mitbestimmt.

Welche Forderungen ergeben sich daraus für die Menschenführung?

Mit einer Belegschaft, die sich schwer tut, den Blick nach vorne zu richten und sich mit einer gewissen Neugier auf das Abenteuer Zukunft einzulassen, gelingt es keinem Unternehmer und keinem Management, aus der erkalteten alten Asche einen neuen Phönix aufsteigen zu lassen. Als emotional wie mental wichtige Voraussetzung für eine Unternehmenstransformation wird sich zunehmend die Gemeinsamkeit im ambiguitätstoleranten Wollen erweisen. Bei allen transformatorischen Schritten darf die Bedeutung dieses kollektivunbefangenen Wollens nicht aus den Augen verloren werden. Ein Unternehmen, ob gross oder klein, aus dem Gegenwärtigen in das Zukünftige zu führen, gelingt umso unproblematischer, arbeitet ein gemeinsames, unsicherheitsstabiles Bewusstsein darauf hin.

Bewusstseinspflege als nachhaltig wirkende Transformationshilfe?

Wo das verkannt wird, wird gegen anstatt mit der Belegschaft gearbeitet. Ohne Bewusstseinspflege vorangetriebene Transformation riskiert, das gewachsene betriebliche Ökosys­tem zu entgeistern. Wie zäh es ist, ein entgeis­tertes Unternehmen unter den herrschenden Unsicherheitsbedingungen zurück in ein be­geistertes zu verwandeln, das erfahre ich nur zu oft. Das betriebliche Bewusstsein im Zuge der Transformation in seiner Bedeutung stets mit im Blick zu haben, wirkt fördernd auf die betriebliche Kreativität. Aus dieser Perspek­tive gesehen und in die Wege geleitet, kann Transformation für alle Beteiligten nicht nur eine lustvolle und persönlich gewinnbringende Anstrengung werden, sondern auch der zwangsläufig damit verbundenen Unsi­cherheit ein wenig den Stachel nehmen.

Bei mir klingelt da irgendwie der Name Mihaly Csikszentmihalyi im Kopf?

Es klingelt richtig. Es macht einen ganz ver­flixten Unterschied, ob aus einem «Ich muss» oder «Ich will» eine Arbeit, insbesondere eine so heikle wie die Transformation, ins tenden­ziell noch eher Ungewisse vorangetrieben wird. Das hat der mittlerweile 85­jährige Psy­chologieprofessor Mihaly Csikszentmihalyi erkannt. Flow, der Name, den er für diesen Unterschied prägte, ist zu einem Synonym für das vorbehaltlose Aufgehen in einer Auf­gabe geworden. Wer im Flow arbeitet, ist voll konzentriert, lässt sich nicht ablenken, geht ganz in einer Aufgabe auf. Ambiguitätstole­ranz, verstanden als innere Widerstands­fähigkeit gegen Unsicherheit und Fähigkeit, unter Unsicherheitsbedingungen unbeirrt an einer Aufgabenlösung zu arbeiten oder mit­ zuwirken, profitiert enorm von den Kräften des Flow. Die Führungskultur mancher Start­ ups spricht eindeutig dafür.

Das heisst in der Schlussfolgerung?

Was Unternehmen in dieser Zeit grundstür­zender Veränderung allem voran brauchen, ist die Ingeniosität ihrer Belegschaft, deren schöpferische Begabung, deren Erfindungsreichtum, deren Unverdrossenheit in der Zielverfolgung, kurz, deren Ambiguitätstole­ ranz. Was Unternehmen unter dem Druck von Disruption und Transformation nur zu schnell aus den Augen verlieren, sind die Grundbedingungen für diese Toleranz, was sie selbst dazu beisteuern müssen, um den für sie so hilfreichen Flow nicht zu einem Un­ bekannten unter ihrer Belegschaft werden zu lassen. Was Unternehmen mithin ins Kalkül ziehen sollten, ist die Macht des Mentalen und die sich daraus ergebende Notwendig­keit, das Mentale in ihren Reihen zu pflegen. Wie der Mensch denkt, so arbeitet er. Prägende Unsicherheitsgefühle dieses Den­ken, dominieren diese Gefühle alles. Der Mensch wird von der eigenen Befangenheit gelähmt. Sie absorbiert die Aufmerksamkeit komplett. In der Anerkennung dieses Wissens liegt der Anfang eines gemeinsamen Wegs in das noch Ungewisse und der Schlüs­sel zur Behauptung in der Disruption und der Bewältigung der Transformation.

(Visited 87 times, 1 visits today)

Weitere Artikel zum Thema